Ja, ist kein neues Thema, sondern vielmehr ein immer wieder aufgewärmtes. Macht aber nix, denn ich hab dazu bislang noch nicht viel gesagt/geschrieben. 😉
Neulich entbrannte bei Twitter eine Diskussion über Charaktere und deren Hintergründe bzw. Hintergrundgeschichten. Den Aufhänger bildete eine Liste mit etwa 60 Fragen an einen Charakter, die Paul Cossmer als nette inspirierende Geste bei Twitter für Interessierte eingestellt hat. Dabei ging es nicht allein um diese Liste, sondern zudem an sich auch darum, eigene Überlegungen, Ressourcen usw. mehr auszutauschen, was ich sehr begrüßenswert finde.
Diese Liste wurde durchaus von einigen begeistert aufgenommen und deren Existenz auch kommentiert. So schrieb beispielsweise OldSchoolRP:
„Tolle Liste! Ich lese oft, dass Spieler ihren Char erst „im Spiel entwickeln“… ich find das total kacke! Ich bin doch schon wer, bevor ich in Abenteuer ziehe! Ich bin feige o. mutig, agil o eher langsam, in- o. extrovertiert. Ich passe meinen Char nicht an das Abenteuer an, sondern komme am Anfang mit einem Stil ins Spiel,der sich mitunter nach ner Zeit ändern kann, aber erst mal bin ich,wie ich bin. Das finde ich total wichtig. Und anhand deiner Liste kann der SL auch ein paar triggerpunkte anspielen! Sollte sich jeder Spieler mal ansehen!“
Ich hab das dann mal nett und knapp mit „Völlig gegensätzliche Meinung 🙂“ kommentiert.
Das soll an Zitaten reichen, denn wer will, kann sich das Ganze ja aus den verschiedenen Perspektiven der einzelnen Teilnehmer*innen mal auf der genannten Plattform ansehen. Alles andere würde hier zuviel Platz einnehmen und ich fänds auch ungeachtet meiner Kritik nicht in Ordnung, weil es zwar eine Diskussion war, die mich unglaublich aufgeregt hat (weshalb ich dazu jetzt einen Artikel tippe), aber dennoch ein weitgehend interessierter Austausch. Und diese letzte Komponente fand ich gut. Außerdem hege ich noch immer die Hoffnung, dass man auf Twitter bei manchen Sachen einfach wegen der Zeichenbegrenzung ein bisschen aneinander vorbei redet, sich aber nicht unbedingt so weit voneinander unterscheidet, wie man meinen könnte (uhm, oder doch …?).
Trotzdem, in aller Ruhe und Sachlichkeit möchte ich sagen:
DAS REGT MICH VOLL AUF!11!
Ob jemand keine Fragen beantwortet oder 1000, das ist mir persönlich völlig egal (solange ich nicht die 1000 Antworten lesen muss). Jede*r so, wie er/sie möchte und es gerne mag. Wenn also jemand oder eine ganze Gruppe meint, die Charaktere werden tiefgehender, triggerbarer etc. durch Beantwortung solcher Fragen, dann können und sollen sie die gerne nutzen. Wenn es funktioniert: wunderbar!
Ich brauche das nicht. Und ich will das auch nicht.
Ich setze mich bei der Charaktererstellung hin und fülle einen Bogen aus. Da lege ich schon Schwerpunkte durch Punktverteilung oder ähnliches, darüber schwebt ein Konzept, vielleicht schweben – je nach Spiel – noch Gesinnung, Klasse usw. mit. Das IST mein Charakter!
Bis ich den Bogen fertig hab, hab ich – alle Werte und Entscheidungen bei der Charaktererschaffung zusammengenommen – eine Vorstellung von diesem Charakter, von Stärken und Schwächen. Letztere stehen bei manchen Spielen vielleicht sogar als Nachteil mit auf dem Bogen (DSA, Splittermond, WoD, Call of Cthulhu etc.), vielleicht auch nicht, vielleicht sieht das umschreibende Konzept schlicht anders aus (z.B. Ideals, Bonds etc. bei DnD 5). Und das war es dann.
Wenn ich mir Bögen von SC ansehe im Vorfeld, habe ich übrigens auch SL-seitig meist eine Vorstellung davon, in welche Richtung der Charakter geht, welches Basiskonzept da verfolgt wird und sogar, welche Ziele diesem SC womöglich wichtig sind. Es ist also alles da.
Und der Rest, der gehört an den Tisch. Der Rest gehört ins Spiel, darin eingeflochten. Hintergrundideen und -konzepte treffen auf andere Meinungen von SC, NSC, Umgebungen – das ist Teil des Spiels für mich.
Ich muss dazu sagen, dass ich im Verlauf der Jahre auch eher schlechte Erfahrungen mit Charakteren gemacht habe, deren Spieler*in dazu x Seiten Hintergrundgeschichte geschrieben hat, zig Fragen aus Katalog XYZ beantwortet hat und derlei mehr.
Vorurteile? Kann ich auch!
Erlebt sind das für mich vorwiegend verkopfte Personen, die höchst unflexibel sind und ungern von all ihren 1000 Details auch nur einen Millimeter abweichen. Sie spielen den Charakter nicht aus, sondern bringen an jeder möglichen (und unmöglichen!) Stelle irgendwelche höchst wichtigen inneren Konflikte, Probleme, Emotionen etc. in die Szene, damit die Aspekte eben „drin“ sind, „dabei“ sind, „relevant“ sind – und damit ziehen sie dann auch jede Menge Spotlight, weil sie natürlich dann auch erwarten, dass man ihnen zuhört, auf sie einredet, sie überzeugt, tröstet oder was eben gerade so ansteht. Wohlgemerkt: meine (leider sehr häufigen) Erfahrungen dazu.
Für mich ist das einmal „tell“ statt „show“, was von Hause aus langweiliger ist, und dann spiele ich tatsächlich mit anderen zusammen, um mit ihnen zusammen zu spielen. Ich achte darauf, dass andere ebenfalls „ihre Szenen“ haben (und das nicht nur alle x Sessions), dass ich andere Figuren anspiele, dass ich Angebote von SL-Seite wahrnehme und annehme. Ich hab gar keinen Bock darauf, mir die imaginären Probleme von SC X ewig lang anzuhören und da rumzueieren, denn da sind noch andere Leute und … da ist noch dieser Drache, gegen den ich kämpfen will, die Stadt, die ich retten will, den Run, den ich durchziehen will etc.
Dein Charakter ist halt so?

Meinen Erfahrungen nach (!) sind es genau diese megadetaillierten Charaktere, von denen man dann früher oder später auch dieses „Mein Charakter ist halt so!“ hört. Und da könnte ich ausflippen. Dein Charakter ist so, wie DU ihn gestaltest. Wenn er ein Arsch ist, bestimmst DU das so. Wenn er/sie nicht gruppenkonform handelt, bestimmst DU das so. Wenn du also anderen Mitspieler*innen Gelegenheiten und Spaß klaust, bist gottverdammt DU das, der das macht, und nicht der Charakter, den du dir notiert hast. Der macht nämlich gar nichts ohne DICH.
Dass ich das alles als so lahm und langweilig und unnötig, schlicht als Zeitverschwendung ansehe, heißt aber wohlgemerkt nicht, dass das objektiv so ist. Es heißt, dass ICH das so sehe, und dass MIR sowas auf den Zeiger geht. Ich bin also schlicht nicht kompatibel mit dieser Art Spielvorliebe und -stil. Macht nix. So viele Spiele, so viele Leute … man muss ja nicht zusammen spielen. Jeder Jeck ist anders und so.
Ich zitiere mich an dieser Stelle mal selbst aus einem alten Artikel:
„Die Frage ist aber, was ist denn an „Mein Charakter ist halt so“ so unglaublich nervtötend? Eigentlich kritisiert man doch nicht, dass jemand sich Gedanken um seinen Charakter macht, möglichst plausibel/nachvollziehbar/realistisch spielen will oder so etwas. Man kritisiert, dass diese Aussage als Ausrede genutzt wird, um unkooperatives Spielen zu rechtfertigen, anderen vor den Karren zu fahren, über Gebühr Spielzeit für sich zu ziehen.“
Zwischentöne der Prokrastination
Tatsächlich gibts auch Zwischendinge, die ich wiederum durchaus akzeptiere, mag, nutze, genutzt habe und so weiter. Beispielsweise die Flags aus dem Metstübchen bzw. von Dominic Wäsch. Diese Flaggen umfassen 4 Fragen, auch wenn das Dokument dazu lange und breite 7 Seiten umfasst. Ich wiederhole: VIER Fragen. Und meiner Ansicht nach ist da alles drin – inklusive der Triggerpunkte, die manche Leute so gern drin haben möchten. Fertig.
Ich mag auch Charaktertagebücher und bin bekennender Fan des Barbiespiels, das könnte man auch beides grob in diese Kategorie packen.
Charaktertagebücher können, wenn sie parallel verfasst werden und allen in der Gruppe zur Verfügung stehen bzw. jede*r Spieler*in welche schreibt, durchaus Geschichten, die gespielt werden und Charaktere, die auftauchen, beeinflussen und verändern. Für mich ist das allerdings eine ganz eigene Spielart, die wenig mit dem Thema der Charakterfestlegung zu tun hat.
Selbiges gilt auch für Barbiespiel, bei dem ich niemanden beeinflusse oder Zeit in Anspruch nehme außer meiner eigenen.
Wo liegt das Problem?
Das Problem liegt für mich in der „Besserspielerei“.
Im Rahmen der Diskussion kam dann auch wiederholt auf, dass Charaktere, die ohne Fragenkataloge, geheime Infos, Trigger und Co. schlicht in einem Bogen festgehalten werden, demnach keine Tiefe haben, mitbringen, einbringen. Können sie nicht, weil man ja nicht alles festgelegt habe. Das finde ich ganz schön frech. Ich bin nämlich der Meinung, dass meine Charaktere (und die der meisten Spieler*innen, zu denen ich Kontakt habe und mit denen ich so spiele) durchaus konsistent sind, Ziele haben, Makel usw.
Nur weil es nirgends steht, ist es nicht nicht da. Nur weil ich keine Stunden brauche für ein Konzept ist es nicht schluderig. Nur weil ich bestimmte Aspekte nicht notiere, sind sie dennoch da und kein Fähnchen im Wind.
Ebenso wie Improrunden (SL ist unvorbereitet und reagiert auf Einwürfe und Wünsche) garantiert nicht immer belanglos, unspannend, langweilig oder „zum (Ab)Brechen“ sind (was in der Diskussion ebenfalls aufkam), weil ja eben nicht alles inklusive einer möglichst „charaktergetriebenen Story“ durch 100 Fragenkataloge zuvor gegangen ist.
Ich hab echt kein Problem damit, wenn Leute ihre Freizeit umfassend mit Fragekatalogen, Recherchen, ausführlichsten Entwicklungen und all dem verbringen. Manches, das daraus erwächst, ist durchaus nett und sehenswert, anderes halt nicht. So wie man auch „einfach so“ Charaktere erstellen kann, die dann eben auch ohne viel Rumgeschreibsel toll sind und Wiederkennungswert haben – und bei anderen eben nicht.
Die Position, dass Charaktere oder Runden nach meiner Façon automatisch schlechter sein sollen, Fähnchen im Wind, austauschbar, ohne Tiefe, ohne Story im Kopf, ohne Trigger, ohne „deep“ genug zu sein eben, die finde ich hingegen völlig daneben.
Ich behaupte ja auch nicht, dass ihr all die Zeit und das Geschreibsel nur braucht, weil ihr es anders nicht hinkriegt. 😉
+1
Naja, kommt darauf an, was das sein soll: Ein zu beantwortender Fragenkatalog? Dann ist es meiner bescheidenen Meinung nach meschugge. Die 20 Fragen von Shadowrun halte ich ja schon für hochgestochen, aber 60?
Ausfüllen, dem SL geben und dann bei der ersten Spielsitzung fragen „Okay, lieber SL, ohne nachzugucken: Wie sieht die Morgenroutine meines Charakters aus, wen bewundert er am meisten und was ist das Besondere an dem Ort, an dem er aufgewachsen ist?“ Und das machen alle 4-5 Spieler.
Als Quelle der Inspiration für zwei, drei, vier Fragen, die man sich herauspicken kann, wenn man den kurzen Absatz ausarbeitet, der meiner Meinung nach das vernünftige Minimum für eine Charakterbeschreibung darstellt? Ja, kann man wohl machen. In diesem psycho-Sammelsurium würde ich persönlich allerdings wenig inspirirendes finden.
Du sprichst mir aus der Seele.
Wie mich solche Diskussionen auch oft nerven und diese Methodactor dann nicht aus der Rolle wollen, weil sie einen Roman als Hintergrund geschrieben haben und ich bitte mit meinem Plot drauf eingehen soll
@Wulfhelm: Das lässt die Liste offen, wie viele Fragen man stellt. Mir ging es hierbei auch nicht um die Liste, sondern um die Diskussion darum.
Ich habe leider noch nicht so viele Runden gespielt. Bisher sind mir auch solche anstrengenden Spieler*innen auch noch nicht begegnet. Was du sagst ergibt aber viel Sinn. Danke für die Verlinkung der Flaggen.
Da kann man nicht mehr viel hinzufügen.
Gerade „Dein Charakter ist halt so?“ entlarvt sehr treffend, was manchmal eigentlich hinter der Aussage steckt: Ein vermeintliches Abschieben der Verantwortung für eigenes Handeln. Ironischerweise auf eine frühere Version des Abschiebenden selbst.
Inwiefern sind denn Barbiespiel und Charaktertagebücher für dich Prokrastination? Sind das Dinge, die du als sinnloser Zeitvertreib bewertest?
Nicht sinnlos generell. Sonst würde ich mich damit ja gar nicht erst befassen. 😉
Für das Gruppenspiel hingegen und dessen Entwicklung durchaus sinnlos – darf und vielleicht sollte es aber auch sein.
Ich drücke die Daumen, dass es bei dir lange so bleibt. 🙂